Rechtsanwalt Karl Engels Betäubungsmittel
Die "nicht geringe Menge" Morphin

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat durch Urteil vom 22.12.1987 (1 StR 612/87) entschieden, dass bei Zubereitungen von Morphin die "nicht geringe Menge" bei 4,5 gr Morphinhydrochlorid beginnt.

Urteilsgründe (auszugsweise):

Der Senat ist der Auffassung, daß bei Morphinzubereitungen die "nicht geringe Menge" (...) bei 4,5 Gramm Morphinhydrochiorid beginnt. Die Bestimmung dieses Grenzwerts hatte sich an der vom Senat vorgenommenen Festsetzung für Heroin (BGHSt 32, 162) zu orientieren, da es sich bei Heroin um ein durch Verarbeitung von Morphin gewonnenes Betäubungsmittel handelt. Dabei waren Beschaffenheit, Wirkungsweise und Gefährlichkeit von Morphin zu berücksichtigen, das nach Anlage III Teil A zu § 1 Abs. 1 BtMG zu den verkehrs- und verschreibungsfähigen Betäubungsmitteln gehört.

Folgendes entnimmt der Senat einer Stellungnahme, welche die Toxikologen der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamts bei ihrem Symposium vom 21. und 22. Mai 1984 erarbeitet haben (vgl. Megges/Steinke/ Wasilewskl NStZ 1985, 163), sowie fachwissenschaftlichen Äußerungen (Möller, Pharmakologie 5. Aufl. S. 308 ff.; Huber, Psychiatrie 3. Aufl. S. 75 f., S. 321 f., S. 326 f.; Neumüller in Römpps Chemie-Lexikon, 8. Aufl. Stichwort "Morphin"; Wanke/Täschner in Hesse, Rauschmittel 5. Aufl. S. 64 ff.; Schmidbauer/vom Scheidt, Handbuch der Rauschdrogen, Neuausgabe 1986 S. 310 ff.; Logemann/Werp in Forster, Praxis der Rechtsmedizin 1986 S. 756 ff.; vgl. ferner Körner, BtMG 2. Aufl. § 29 Rdn. 47, Anhang C 1 Anm. 2 sowie Eberth/Müller, Betäubungsmittelrecht 1982 § 1 BtMG Rdn. 50 ff.):

a) Morphin ist das Hauptalkaloid des Opiums, aus dem es erstmals im Jahre 1806 von dem deutschen Apotheker Sertümer isoliert wurde. Morphinbase ist in Wasser kaum löslich; in dieser Form kann Morphin nicht konsumiert werden. In der Regel wird Morphin deshalb in Form seines Hydrochlorids verwendet. Es muß vor der Injektion gelöst werden, z. B. in Zitronen- oder Essigsäure.

Es gibt verschiedene Applikationsarten. Am wirksamsten ist die intravenöse Injektion. Diese Konsumform kommt ganz überwiegend vor und ist hier zugrundezulegen.

Die übliche therapeutische Dosis beträgt 10 mg pro 70 kg Körpergewicht. Als Konsumeinheit bei illegalem Gebrauch sind 30 mg – intravenös injiziert – anzusetzen. Nach intravenöser Injektion von 10 mg tritt die größte analgetische Wirkung in 15 bis 30 Minuten ein. Die Wirkungsdauer erstreckt sich beim Morphinungewohnten auf mehrere Stunden. Die Tageshöchstdosis wird angegeben mit 100 bis 200 mg.

Orale Einnahme bedingt jeweils eine höhere Dosierung, die sich aus der schlechteren Resorbierbarkeit im Magen-Darm-Trakt im Vergleich zur Injektion in das subkutane Gewebe erklärt.

Morphin wirkt hauptsächlich auf das Zentralnervensystem, und zwar sowohl dämpfend als auch erregend. Von den zentral dämpfenden Wirkungen sind hervorzuheben die sehr gute Analgesie, also die Aufhebung von Schmerzempfindungen, wobei andere Sinnesqualitäten nicht beeinträchtigt werden, die sedativ-hypnotische Wirkung – bei einigen Konsumenten stellt sich bereits bei therapeutischen Dosen Euphorie ein, bei anderen Dysphorie –, die atemdepressorische Wirkung (die eine besondere Gefährdung mit sich bringt), die hustenstillende Wirkung und eine Dämpfung des Brechzentrums. Als Folge der zentral erregenden Wirkungen beobachtet man vielfach "stecknadelkopfgroße" Pupillen. Periphere Wirkungen kommen hinzu.

Die Toxizität von Morphin ist erheblich. Die toxische Dosis, also eine Einzeldosis, bei der eine akute Vergiftung in Betracht kommt, beginnt für den Ungewohnten bei 50 mg (intravenös injiziert). Es ist dann eine starke Verminderung der Atemfunktion zu beobachten. Bereits 100 mg stellen bei einer den Magen- Darm-Kanal umgehenden Applikation eine äußerst gefährliche Dosis dar. Bei oraler Aufnahme kann eine Einzeldosis des Mehrfachen unter Umständen tödlich wirken.

Kennzeichen der akuten Vergiftung sind tiefes Koma, oberflächliche bis fast fehlende Atmung und maximale Verengung der Pupillen. Die häufigste Todesursache ist Atemlähmung.

Wiederholter Morphinkonsum führt sowohl zu psychischer als auch zu körperlicher Abhängigkeit. Morphin gehört – nach Heroin – zu den am stärksten und am schnellsten suchterzeugenden Stoffen, die bekannt sind. Der Intensität des analgetischen Effektes entspricht das Ausmaß der euphorisierenden Wirkung: Stark euphorisierende Substanzen machen auch stark abhängig. Rasch bildet sich eine Gewöhnung aus. Bei regelmäßiger Einnahme entwickelt sich spätestens nach drei Wochen eine Toleranz, die zu Dosissteigerungen führt: Der Gewohnte toleriert dann Dosen, die für den Nichtgewohnten tödlich sein können. Morphinabhängigkeit führt mithin zu einer erheblichen Erhöhung sowohl der Einzeldosis als auch der Einnahmefrequenz.

Diese Toleranzentwicklung wird begleitet von körperlich-seelischem und sozialem Abstieg, wenn auch die Verstandestätigkeit lange intakt bleibt. Der Morphinsüchtige fällt auf durch dauernd verengte Pupillen, Abmagerung, raschen Stimmungswechsel und sein schlechtes, gelblich-fahles Aussehen. Vor allem entwickelt sich mit zunehmender Intoxikation eine tiefgreifende Wesensveränderung, eine »Aushöhlung« der Persönlichkeit.

Wird die Morphinzufuhr unterbrochen, so zeigen sich nach 6 bis 12 Stunden Abstinenzerscheinungen, die zu sehr bedrohlichen Zuständen führen können (unter anderem droht ein lebensgefährlicher Kreislaufkollaps).

b) Die Suchtgefährlichkeit von Morphin ist, worauf bereits die toxikologischen Sachverständigen hingewiesen haben (vgl. NStZ 1985, 163), etwas geringer als bei Heroin. Wegen der außerordentlichen Gefährlichkeit dieses Betäubungsmittels, das nach Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 BtMG zu den nicht verkehrsfähigen Betäubungsmitteln gehört, hat der Senat die "nicht geringe Menge" auf 1,5 Gramm Heroinhydrochlorid festgesetzt (BGHSt 32, 162).

Heroin (Diacetylmorphin, Diamorphin) wird halbsynthetisch durch Acetylierung der OH-Gruppen aus Morphin gewonnen. Es handelt sich um ein Opium-Derivat, das dadurch entsteht, daß man Morphin mit Essigsäure anhydriert behandelt. Zur Herstellung von Heroin werden Morphinbase/ Morphinhydrochlorid, Essigsäureanhydrid, Natriumcarbonat und Wasser benötigt.

Heroin wirkt etwa dreimal stärker als Morphin (Logemann/Werp in Forster aaO S. 762). Die Blut-Hirn-Schranke ist für Heroin und den primär entstehenden Metaboliten Monoacetylmorphin leichter zu durchdringen, da sie leichter fettlöslich sind als Morphin. Heroin stellt somit die wesentlich bessere Transportform des Morphins in das Gehirn dar.

Bei der Einnahme von Heroin erreicht mehr Morphin schneller den Wirkort. Als Folge davon sind Toleranz und Abhängigkeit bei Heroin meist stärker ausgeprägt als bei Morphinmißbrauch, so daß die Suchtgefahr bei Heroin besonders groß ist (Logemann/Werp in Forster aaO S. 762; vgl. auch Eberth/Müller aaO § 1 BtMG Rdn. 53 bis 55).

Darum ist, soweit es sich um Opiate handelt, auf dem illegalen Markt Morphin weithin verdrängt durch Heroin.

c) (...) Bei Heroin hat der Senat eine Wirkstoffmenge, aus der sich 30 äußerst gefährliche Dosen zu je 50 mg Heroinhydrochlorid) gewinnen lassen, als genügend angesehen (BGHSt 32, 162, 164). Diese Anzahl erscheint bei der Festsetzung des Grenzwerts für Morphin nicht ausreichend. Vielmehr setzt die Annahme einer "nicht geringen Menge" bei Morphin im Hinblick auf die oben aufgezeigten Unterschiede zu Heroin eine Wirkstoffmenge voraus, die 45 äußerst gefährliche Dosen (zu je 100 mg Morphinhydrochlorid) ergibt. Der Senat setzt daher den Grenzwert auf 4,5 Gramm Morphinhydrochlorid fest.


BGHSt 35, 179