Rechtsanwalt Karl Engels Betäubungsmittel
Die "nicht geringe Menge" Schlafmohnkapseln

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat durch Urteil vom 08.11.2016 (1 StR 492/15) entschieden, dass die "nicht geringe Menge" von Morphinhydrochlorid in Schlafmohnkapseln bei 70 g beginnt.

Urteilsgründe (auszugsweise):

1. Der Senat setzt den Grenzwert der nicht geringen Menge des Morphinhydroclorids in Schlafmohnkapseln (Papaver somniferum) auf 70 g fest.

Bei der Festlegung der nicht geringen Menge ist nur auf das Hauptalkaloid Morphin als dem quantitativ und in der Gefährlichkeit dominierenden Wirkstoff in Schlafmohnkapseln abzustellen. Codein bleibt außer Betracht, da es nicht wirkungsbestimmend ist.

2. Nach der in ständiger Rechtsprechung vom Bundesgerichtshof angewandten Methode zur Bestimmung des Grenzwerts eines Betäubungsmittels (vgl. BGH, Urteile vom 3. Dezember 2008 - 2 StR 86/08, BGHSt 53, 89 ff.; vom 17. November 2011 - 3 StR 315/10, BGHSt 57, 60 ff.; vom 14. Januar 2015 - 1 StR 302/13, BGHSt 60, 134, 136 und vom 5. November 2015 - 4 StR 124/14, StraFo 2016, 37, 38) ist dieser stets in Abhängigkeit von der konkreten Wirkungsweise und Wirkstoffintensität des Betäubungsmittels festzulegen.

Maßgeblich ist zunächst die äußerst gefährliche, gar tödliche Dosis des Wirkstoffs (vgl. BGH, Beschluss vom 7. November 1983 - 1 StR 721/83, BGHSt 32, 162, 164; Urteil vom 22. Dezember 1987 - 1 StR 612/87, BGHSt 35, 179, 183). Fehlen hierzu gesicherte Erkenntnisse, so errechnet sich der Grenzwert als ein Vielfaches der durchschnittlichen Konsumeinheit eines nicht an den Genuss dieser Droge gewöhnten Konsumenten. Ist auch die zur Erzielung eines Rauschzustands durch einen nicht an den Genuss dieser Droge gewöhnten Konsumenten adäquate Dosis nicht feststellbar, ist die maßgebliche Einzelmenge am Tagesbedarf zu bemessen (BGH, Urteil vom 2. November 2010 - 1 StR 581/09, BGHSt 56, 52). Das Vielfache ist nach Maßgabe der Gefährlichkeit des Stoffes, insbesondere seines Abhängigkeiten auslösenden oder sonst die Gesundheit schädigenden Potentials zu berechnen (BGH, Urteil vom 3. Dezember 2008 - 2 StR 86/08, BGHSt 53, 89). Die Dosis ist hierbei von der Darreichungsform abhängig. Lassen sich auch zum Konsumverhalten keine ausreichenden Erkenntnisse gewinnen, so entscheidet ein Vergleich mit verwandten Wirkstoffen (vgl. BGH, Urteile vom 24. April 2007 - 1 StR 52/07, BGHSt 51, 318, 322 und vom 17. November 2011 - 3 StR 315/10, BGHSt 57, 60, 64).

3. Zur Wirkung und Gefährlichkeit von Schlafmohnkapseln hat der Senat, sachverständig beraten durch die Sachverständigen A. und S., nach deren Anhörung in der Hauptverhandlung Folgendes festgestellt:

a) Opium aus dem Milchsaft der Schlafmohnkapsel enthält zu 3 bis 18 % (im Mittel ca. 10 %) Morphin als Hauptalkaloid sowie weitere Alkaloide. Darunter ist an zweiter Stelle der wirksamen Inhaltsstoffe Codein mit einem Gehalt von 0,2 bis 6 % (im Mittel ca. 5 %).

Hohe Dosierungen von Morphin führen aufgrund der zentral dämpfenden Wirkung zu einer Atemdepression, also einer das Atemzentrum lähmenden Wirkung, die tödlich sein kann. Da Opium und Mohnstroh - getrocknete Schlafmohnkapseln ohne Samenkapseln - weitere Alkaloide enthalten, die zum Teil einen stimulierenden Effekt auf die Atmung haben, ist es möglich, dass eine Atemdepression im Vergleich zur Applikation reinen Morphins erst bei höherer Dosierung eintritt. Auch Codein kann die Morphinwirkung modifizieren oder modulieren. Gesicherte Erkenntnisse, ob überhaupt und ggfs. inwieweit die atemdepressiven Effekte des Morphins durch opiumtypische Begleitsubstanzen abgeschwächt werden können, fehlen.

b) Getrocknete Schlafmohnkapseln enthalten (neben weiteren Alkaloiden) durchschnittlich 1 bis 1,5 % Morphin.

c) Der Konsum von Schlafmohnkapseln führt u.a. zu einer entspannenden, euphorisierenden, tendenziell schlaffördernden Wirkung. Eine Abhängigkeit entwickelt sich nur langsam und weniger als bei anderen Konsumformen. Bei an den Konsum gewöhnten Konsumenten treten acht bis zehn Stunden nach dem Konsum Entzugserscheinungen auf (z.B. Knochenschmerzen, Speichelfluss, Juckreiz u.a.) Organische Schäden verursacht der Konsum von Schlafmohnkapseln nicht.

Die akute Gefährlichkeit von Schlafmohnkapseln beruht auf der Atemdepression, die bei Konsum größerer Mengen eintreten kann. Atemdepressive Effekte wurden schon bei Konsum von Kapseln mit Wirkstoffmengen zwischen 200 und 250 mg Morphinhydrochlorid berichtet, auch wenn diese Mengen einer letale Dosis noch nicht erreichen.

Da der Wirkstoffgehalt getrockneter Schlafmohnkapseln stark schwankt, kann es bei Aufnahme gleicher Mengen gemahlener Kapseln leichter zu unbeabsichtigten Fehldosierungen kommen. Schlafmohnkapseln sind ohne aufwändige Verarbeitung und Aufreinigung nur für die orale Aufnahme geeignet.

Im Vergleich zu injiziertem Morphin sind Schlafmohnkapseln weniger gefährlich, weil deren orale Aufnahme eine langsamere Resorption zur Folge hat und die primäre Leberpassage zu einem First-Pass-Effekt führt; d.h. der Wirkstoff steht dem Körper nach Abschluss des Leberstoffwechsels nicht mehr in vollem Umfang zur Verfügung (sog. reduzierte Bioverfügbarkeit). Die Bioverfügbarkeit bei oraler Aufnahme gemahlener Kapseln mit Hilfe von Flüssigkeit beträgt ca. 20 %, d.h. nur etwa 20 % des Wirkstoffs erreichen nach Passage von Darm und Leber den Wirkort. Die parenterale Applikation von Morphin (intravenös, subkutan oder intramuskulär injiziert) ist gefährlicher als die orale Applikation, weil sie nicht zu einem Wirkstoffverlust führt und einen schnellen Wirkeintritt hat ("Kick"). Intravenös angewendete Opiate/Opinoide werden deshalb als mindestens doppelt so gefährlich eingeschätzt wie oral applizierte.

Bei Rauchopium tritt keine Minderung der Bioverfügbarkeit ein, weil die Passage über den Magen-Darm-Trakt und die Leber umgangen wird; der Wirkstoff flutet schnell an. Allerdings verbrennt ein schwer zu beziffernder Anteil.

Die Gefährlichkeit von Schlafmohnkapseln ist im Vergleich zu Heroin, das den gleichen Wirkmechanismus hat, wesentlich geringer einzustufen, da Schlafmohnkapseln nur oral aufgenommen werden können, ein deutlich geringeres suchterzeugendes Potential haben und es nicht wie bei Heroin zu einer extrem schnellen Wirkstoffanflutung kommt.

Kokain und Methamphetamin sind im Vergleich zu oral applizierten Opiaten gefährlicher.

Der Konsum von Cannabis kann unabhängig von der Dosierung keine letalen Folgen haben, aber Drogenpsychosen auslösen. Gerauchtes Cannabis kann die Lungenfunktion beeinträchtigen. Cannabis besitzt nur ein gering ausgeprägtes Abhängigkeitspotential.

Für Cannabisprodukte hat der BGH einen Grenzwert von 7,5 g Tetrahydrocannabinol (500 Konsumeinheiten zu je 15 mg, vgl. BGH, Urteil vom 18. Juli 1984 - 3 StR 183/84, BGHSt 33, 8, 14) festgesetzt, aber darauf hingewiesen, dass "die hohe Zahl von 500 durchschnittlichen Konsumeinheiten wegen der berücksichtigten Unsicherheitsfaktoren nicht ohne weiteres auch für die Berechnung der nicht geringen Menge anderer Betäubungsmittel anwendet werden kann". Cannabis und Opium sind auch deshalb kaum miteinander vergleichbar, da sie unterschiedliche Wirkmechanismen haben.

Unter den Betäubungsmitteln bietet sich deshalb am ehesten ein Vergleich des oralen Konsums von Schlafmohnkapseln mit Morphin an, da hier vom gleichen Wirkmechanismus ausgegangen werden kann.

d) Eine als äußerst gefährlich zu bezeichnende, potentiell einen Atemstillstand auslösende Menge kann nicht exakt angegebenen werden, weil die Bioverfügbarkeit bei oraler Aufnahme von verschiedenen Faktoren, insbesondere auch der Konstitution des Konsumenten abhängt, und daher unterschiedlich ist. Hinzu kommt der geringe Wirkstoffgehalt von Schlafmohnkapseln, der eine exakte Bestimmung der letalen Dosis weiter erschwert.

Bei oral in Tabletten aufgenommenem Morphin liegt die äußerst gefährliche Dosis zwischen 250 und 1000 mg Morphinhydrochlorid. In der Annahme einer verzögerten und unvollständigen Freisetzung des Morphins, das mittels getrockneter, gemahlener und mit Wasser versetztem Pulver eingenommenen wurde, erhöht sich die "äußerst gefährliche" Menge weiter. Eine weitere Erhöhung würde sich ergeben, wenn Codein und andere in den Kapseln enthaltene Alkaloide den Effekt von Morphin teilweise ausgleichen könnten. Verlässliche Grenzen für eine letale Dosis existieren nicht.

e) Auch die durchschnittliche Konsumeinheit bei oral konsumierten Schlafmohnkapseln lässt sich nicht ausreichend exakt bestimmen. Der Wirkstoffgehalt getrockneter Schlafmohnkapseln schwankt stark, abhängig von Größe, Anbaugebiet, Erntezeitpunkt und anderen Faktoren. Auch bei der Art und Menge der oralen Applikation gibt es unterschiedliche Konsumgewohnheiten, beginnend mit der verwendeten Flüssigkeit (kaltes oder heißes Wasser, Alkohol, Zugabe von Essig u.a.), die die Wasserlöslichkeit des Wirkstoffs beeinflusst. Die von den Konsumenten eingenommenen Wirkstoffmengen sind ebenfalls unterschiedlich, da sie sich am kulturellen Hintergrund, an medizinischen Erwartungen, an erwünschten betäubenden u.a. Effekten ausrichten.

f) In Ermanglung gesicherter Erkenntnisse zu einer äußerst gefährlichen oder gar tödlichen Dosis, zur Darreichungsform und zum Konsumverhalten orientiert sich der Senat bei der Bestimmung des Grenzwerts der nicht geringen Menge des Wirkstoffs in Schlafmohnkapseln an der Festsetzung der nicht geringen Menge für Morphinzubereitungen bei intravenöser Injektion (BGH, Urteil vom 22. Dezember 1987 - 1 StR 612/87 - BGHSt 35, 179-182). Hier besteht eine hohe Vergleichbarkeit, da Morphin das Hauptalkaloid von Opium ist und mithin im Grundsatz identische Wirkmechanismen vorliegen.

Die "nicht geringe Menge" wurde für Morphinzubereitungen bei intravenöser Injektion unter der Annahme von 45 äußerst gefährlichen Dosen (je 100 mg Morphinhydrochlorid intravenös injiziert) auf 4,5 g Morphinhydrochlorid festgesetzt.

Der Wert kann allerdings nicht ohne Korrektur übernommen werden, da sich für intravenös injiziertes Morphinhydrochlorid eine letale Dosis für den Morphingewohnten (100 mg - intravenös injiziert - als äußerst gefährliche Einzeldosis) festlegen lässt, während bei gemahlenen und oral aufgenommenen Schlafmohnkapseln eine als äußerst gefährlich zu bezeichnende, potentiell einen Atemstillstand auslösende und daher letale Dosis nicht exakt angegeben werden kann. Zudem ist die intravenöse Applikation von Morphinhydrochlorid mindestens doppelt so gefährlich wie die orale Applikation. Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Bioverfügbarkeit beim Konsum von gemahlenen Schlafmohnkapseln nur 10 bis 20 % beträgt.

Der Senat hält es deshalb für angemessen, den Grenzwert für intravenös injiziertes Morphinhydrochlorid von 4,5 g Morphinhydrochlorid mit dem Faktor 2 zu multiplizieren, um die geringere Gefährlichkeit bei oraler Applikation auszugleichen und mit dem Faktor 10 zu multiplizieren, um die geringe Bioverfügbarkeit bei Schlafmohnkapseln zu erfassen. Der stark schwankende Wirkstoffgehalt der Schlafmohnkapseln wird durch einen Abschlag berücksichtigt.


NStZ-RR 2017, 45