Rechtsanwalt Karl Engels Betäubungsmittel
Die "nicht geringe Menge" LSD

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat durch Urteil vom 01.09.1987 (1 StR 191/87) entschieden, dass bei Zubereitungen von Lysergsäurediäthylamid (LSD) die "nicht geringe Menge" bei einem Wirkstoffgehalt von 6 mg beginnt und dieses Merkmal bei mindestens 300 "LSD-Trips" ohne weiteres gegeben ist.

Urteilsgründe (auszugsweise):

Der Senat ist der Auffassung, daß bei Zubereitungen von Lysergsäurediäthylamid (LSD) eine "nicht geringe Menge" (...) bei einem Wirkstoffgehalt von 6 Milligramm beginnt. Bei mindestens 300 "LSD-Trips" ist dieses Merkmal ohne weiteres gegeben.

Die Bestimmung dieses Grenzwerts hatte sich an den in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vorgenommenen Festsetzungen für andere Betäubungsmittel zu orientieren. Zu berücksichtigen waren insbesondere Beschaffenheit, Wirkungsweise und Gefährlichkeit von LSD, das nach Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG zu den nicht verkehrsfähigen Betäubungsmitteln gehört (schon die Vierte Betäubungsmittel-Gleichstellungsverordnung vom 21. Februar 1967 hatte LSD dem damaligen Opiumgesetz unterstellt), sowie die bei dieser Droge bestehenden Handels- und Verbrauchsgewohnheiten. Zu diesem Fragenbereich hat der Senat Gutachten des Bundeskriminalamts und des Bundesgesundheitsamts eingeholt. Er entnimmt diesen Gutachten und anderen wissenschaftlichen Außerungen folgendes:

a) LSD ist eine halbsynthetische chemische Verbindung, die erstmals von Albert Hofmann bei der Firma Sandoz in Basel hergestellt wurde. Auf dem illegalen Markt wird LSD in aller Regel in Form von Zubereitungen vertrieben, die den Wirkstoff anteilig enthalten. Es handelt sich üblicherweise um sogenannte Trips: das sind – meist winzige – Tabletten, kleine – gleichmäßig mit dem Wirkstoff präparierte – Löschpapier- oder Filzstückchen oder entsprechend präparierte Blätter aus dünnem, bedrucktem Karton, der durch Perforation in einzelne kleine Quadrate aufgeteilt ist. LSD wird im allgemeinen oral aufgenommen.

Etwa eine halbe Stunde nach oraler Aufnahme kommt es zur Abnahme der Konzentrationsfähigkeit, gefolgt von einem Rauschzustand mit kaleidoskopartigen, plastischen Farbvisionen und einer charakteristischen Hyperakusis (so wird Musik fast körperlich empfunden). Die Haut wird gegenüber geringen Reizen hochempfindlich. Bei weitgehend erhaltenem Bewußtsein kann das Zeitgefühl stark verändert oder völlig aufgehoben sein.

Charakteristisch für den LSD-Rausch ist auch, daß der Konsument glaubt, seinen Körper verlassen zu haben, und sich gleichsam von außen beobachtet. Er "reist" durch Raum und Zeit. Bereiche des Unbewußten und längst vergessene – oft unangenehme – Ereignisse kehren in das Gedächtnis zurück und können den Berauschten in Angst und Schrecken versetzen. Dieser Rauschzustand hält entsprechend der Dosierung bis zu 12 Stunden an.

LSD gilt heute als das wirksamste aller Halluzinogene; es führt bei wiederholtem Gebrauch zu psychischer, nicht aber zu körperlicher Abhängigkeit (Logemann/Werp in Forster, Praxis der Rechtsmedizin 1986 S. 674, 770/771 Huber, Psychiatrie 3. Aufl. S. 332/333; Schmidbauer/vom Scheidt, Handbuch der Rauschdrogen, Neuausgabe 1986 S. 211 bis 244; Körner, BtMG 2. Aufl. Anhang C 1 Anm. 22a cc).

Art und Stärke der LSD-Erlebnisse hängen von biologischen, seelischen und sozialen Bedingungen beim einzelnen Konsumenten ab und sind daher sehr unterschiedlich ausgeprägt.

Als physische Wirkungen treten auf: Tremor und Schwindel, Paraesthesien, Übelkeit und Brechreiz, Ohrensausen, Blutdruckabfall, Hyperthermie. Eine letale Dosis von LSD kann nicht festgestellt werden. Todesfälle als direkte Folge einer LSD-Intoxikation sind bisher nicht bekannt geworden.

Doch kann es in jedem LSD-Rausch zu gefährlichen Zwischenfällen kommen. Im Vordergrund stehen Verkennungen der Situation, eine Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und schwere Verwirrtheitszustände. Dabei kam es bereits mehrfach zu Handlungsweisen mit tödlichem Ausgang (Verkehrsunfälle, Sprung aus dem Fenster). Die häufigste Komplikation, deren Eintritt und deren Folgen kaum vorhersehbar sind, stellt der sogenannte bad trip ("Horrortrip") dar: er führt zu Angstpsychosen und Panikreaktionen. Ferner kommt es nicht selten – auch lange nach dem letzten Konsum von LSD – zu einem Wiederauftreten der Wirkungen ("flash-back"). Bei LSD kann bereits der einmalige Konsum verhängnisvolle Folgen haben (Eberth/ Müller, Betäubungsmittelrecht 1982 S. 90/91). Häufigkeit und Schwere gefährlicher Zwischenfälle beim Genuß von LSD – in dieser Beurteilung stimmen das Bundeskriminalamt und das Bundesgesundheitsamt überein – sind wesentlich höher einzuschätzen als beim Konsum von Cannabisprodukten.

Über die Quantität einer durchschnittlichen Konsumeinheit bei LSD herrschen sehr unterschiedliche Vorstellungen (vgl. Johann/Johnigk StV 1987, 346, 347). Wie das Bundeskriminalamt darlegt, können sich die typischen psychotropen Effekte bei disponierten Personen schon nach oraler Einnahme von 20 Mikrogramm des reinen Wirkstoffs einstellen. (...) In der medizinischen Literatur wird eine Einzeldosis von 20 bis 50 Mikrogramm als geeignet angesehen, die Rauschwirkungen hervorzurufen (vgl. Logemann/Werp aaO S. 771). Die früher von der Firma Sandoz unter dem Handelsnamen Delysid vertriebene Rauschdroge – die psychotherapeutischen Zwecken diente – enthielt jeweils 25 Mikrogramm LSD als Tartrat, was rund 20 Mikrogramm des reinen Wirkstoffs entspricht. Damit ist aber nicht gesagt, daß die Mindestdosis von 20 Mikrogramm in jedem Fall – unabhängig von der individuellen Empfindlichkeit – ausreicht, um die charakteristischen LSD-Wirkungen auszulösen. Hierzu führt das Bundesgesundheitsamt überzeugend aus, als "in der Regel sicher wirksame Einzeldosis" sei erst eine Menge von 50 Mikrogramm des reinen Wirkstoffs anzusehen.

Der Senat hält diese Wirkstoffmenge für maßgebend, da sie im Normalfall eine rauscherzeugende Dosis darstellt. An dieser Beurteilung ändert nichts, daß die bei einem LSD-Konsum übliche Dosis vielfach höher angegeben wird: sie soll 50 bis 100 Mikrogramm betragen (Logemann/Werp aaO S. 771; vgl. auch Schmidbauer/vom Scheidt aaO S. 217). Entgegen der Meinung der Revision ist es bei generalisierender Betrachtungsweise, wie sie hier geboten ist, nicht angezeigt, eine höhere Einzeldosis als 50 Mikrogramm zugrundezulegen.

Was die handelsübliche Verpackungseinheit angeht, so weist die Mehrzahl der heute im illegalen Verkehr befindlichen, meist perfekt konfektionierten LSD-Trips einen Wirkstoffgehalt von 20 bis 40 Mikrogramm auf, wie sich aus den Erkenntnissen des Bundeskriminalamts ergibt. Auch den gerichtlichen Erfahrungen entspricht es, daß oft jeder der zum Verkauf bestimmten LSD-Trips 20 Mikrogramm an reinem Wirkstoff enthält (so verhielt es sich im vorliegenden Fall und beispielsweise auch in demjenigen, der dem Urteil des Landgerichts Trier in StV 1987, 254 zugrundelag).

Bereits nach unmittelbar aufeinander folgender Anwendung mehrerer Tagesdosen LSD entwickelt sich ein hohes Maß an Toleranz gegen die psychedelischen Effekte. Diese Toleranz kann kaum, wie es bei anderen Betäubungsmitteln der Fall ist, durch Dosissteigerung ausgeglichen werden. Sie klingt nur nach Einhaltung einer Pause von mehreren Tagen wieder ab. Demgemäß ist eine Einnahmefrequenz von mehr als zwei wirksamen Dosen pro Woche nicht zu verzeichnen. Kennzeichnend für den LSD-Mißbrauch ist ein Gelegenheitskonsum von Einzeldosen, bei dem sich die geschilderte Toleranz gar nicht erst entwickelt. Deshalb erweist sich eine Dosissteigerung für den Konsumenten auch bei länger andauerndem Verbrauch von LSD nicht als notwendig.

b) Diese Besonderheiten zeigen, daß die für andere Betäubungsmittel geltenden Kriterien nur bedingt auf die Festsetzung einer "nicht geringen Menge" von LSD übertragen werden können.

Bei Heroin errechnet sich der Grenzwert von 1,5 g Heroinhydrochlorid daraus, daß sich aus dieser Menge 30 "äußerst gefährliche" Dosen zu je 50 mg gewinnen lassen (BGHSt 32, 162). Eine derartige – bei nicht drogenabhängigen Personen unter Umständen letal wirkende – Einzeldosis kommt nach den bisherigen Erfahrungen bei LSD nicht in Betracht. Bei diesem Betäubungsmittel droht auch – anders als beim Heroinkonsum – keine sich physisch auswirkende Sucht.

Bei Cannabisprodukten, bei denen der Grenzwert 7,5 g Tetrahydrocannabinol beträgt, scheidet die Ermittlung einer lebensbedrohlichen Einzeldosis aus. Hier ist der Bundesgerichtshof von einer durchschnittlichen Konsumeinheit von 15 mg ausgegangen und hat wegen der wesentlich weniger gefährlichen Natur dieses Betäubungsmittels "die hohe Zahl" von 500 Konsumeinheiten zugrundegelegt (BGHSt 33, 8). Zu Recht haben die toxikologischen Sachverständigen schon bei ihrem Symposium vom 21. und 22. Mai 1984 vorgeschlagen, die Grenzmenge von LSD bei einer erheblich geringeren Anzahl von Konsumeinheiten als bei Haschisch anzusetzen (vgl. Megges/Steinke/ Wasilewski NtZ 1985, 163, 164).

Bei Kokain hat der Bundesgerichtshof berücksichtigt, daß dieses Betäubungsmittel "gefährlicher ist als Haschisch, jedoch nicht so gefährlich wie Heroin" (BGHSt 33, 133). Die festgelegte Grenzmenge von 5 g Kokainhydrochlorid setzt sich zusammen aus einem Vorrat von 3 g für den Eigenverbrauch und einer Menge von 2 g, bei der eine erhebliche Gefahr der Weitergabe besteht. Indessen weicht die Beschaffenheit von LSD von derjenigen von Kokain wesentlich ab.

Den Grenzwert von 10 g Amphetamin-Base hat der Senat auf Grund einer Gesamtwürdigung festgesetzt, ohne auf eine bestimmte Anzahl von durchschnittlichen Konsumeinheiten abzuheben (BGHSt 33, 169). Er hat jedoch darauf hingewiesen, daß "die hohe Dosis für den nicht Amphetamingewöhnten bei 50 mg beginnt". Die erwähnte Grenzmenge umfaßt danach 200 solcher Dosen. Angesichts der Wirkungsweise von LSD liegt es nahe, den Grenzwert in einer geringeren Größenordnung anzusetzen.

c) Die Auffassung (...), der Grenzwert von LSD müsse sich aus 150 Konsumeinheiten zu je 20 Mikrogramm errechnen, er betrage also 3 Milligramm des reinen Wirkstoffs, kann nicht gefolgt werden. Auch der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (Beschl. vom 8. Juli 1987 – 3 StR 176/87) hat rechtliche Bedenken gegen diese Berechnung geäußert. Sie geht insbesondere von einer zu geringen Wirkstoffmenge bei der einzelnen Konsumeinheit aus.

Der Senat hält es für angemessen, den Mindestwert der "nicht geringen Menge" bei LSD – unter Berücksichtigung der Eigenart dieses Betäubungsmittels und der für die anderweitigen Festsetzungen maßgeblichen Erwägungen – auf einen Wirkstoffgehalt von 6 Milligramm festzulegen.

Hierbei geht der Senat davon aus, daß eine Einzeldosis von 50 Mikrogramm des reinen Wirkstoffs in aller Regel genügt, um einen LSD-Rausch herbeizuführen. Angesichts der schwerwiegenden Folgen, die ein solcher Rausch zumindest mittelbar nach sich ziehen kann, bestehen keine Bedenken, eine Summe von 120 derart wirksamer Konsumeinheiten als eine "nicht geringe Menge" (...) zu bewerten.

Zugleich kann der Senat für Fälle, in denen eine chemische Untersuchung des Betäubungsmittels nicht möglich ist oder mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand verbunden wäre, aussprechen, daß bei mindestens 300 "LSD-Trips" dieses Merkmal ohne weiteres gegeben ist. Wie bereits dargelegt, kommen geringer als mit 20 Mikrogramm LSD dosierte Verpackungseinheiten auf dem illegalen Markt praktisch nicht vor. Die angenommene Menge von 300 Trips enthält daher regelmäßig mindestens 6 Milligramm Wirkstoff, unterschreitet also nicht den vom Senat festgesetzten Grenzwert.

Mit seiner Entscheidung trägt der Senat allen Unsicherheiten Rechnung, die in bezug auf die Wirkungsweise im Einzelfall und die Konsumgewohnheiten in Betracht kommen. Auf der anderen Seite war aber zu beachten, daß bei jeglichem Genuß von LSD gefährliche – weithin unberechenbare – Komplikationen auftreten können.


BGHSt 35, 43